Überlagerungsplan und Gegenwart

bahnZumindest was die Straßenbahnen angeht, ist der Stadtplan schon wieder überholt. Von den fünf eingezeichneten Linien („Netzstand März 2010“) verkehrt weder die 1 noch die 2 noch die 8 noch die 9, sondern nur noch die 5. Aber die immerhin gibt es noch. Die Bahnen fahren in angenehm langsamem Tempo in einer groß angelegten S-Kurve von Nordwesten nach Südosten, immer nur ein Wagen, immer nur diese Strecke, als wolle man mit einer monumentalen Hogarthschen Schönheitslinie die weniger berückenden Eindrücke bannen. Die Bahnen sind alle schon ziemlich alt, bis auf DIE EINE, die eine neue Bahn, die gelb aus allem heraussticht und zu der der Passant, weil sie so regelmäßig und doch stets so überraschend auftaucht, sofort ein Verhältnis entwickelt. Ein Verhältnis wie zu einem gut, aber nicht allzu gut bekannten Haustier, dem Haustier, vielleicht, des Nachbarn.

Lost In The Absence Of Translation

Im Gegenlicht, das durch die Fensterscheibe der Wohnung kommt, sieht sie doppelt so alt aus, wie sie ist, eher vierzig statt zwanzig. Vielleicht sieht sie so alt aus, wie sie nicht-biologisch ist. Die Fotos ihrer Reisen. Ein Bildband aus der Heimat, Kamtschatka, Bären, Geysire, ein Tal der Toten, in dem Tiere durch Gase sterben und durch dieselben Gase ewig konserviert werden, ein ganzes Tal voller Leichname.
Auf dem Tisch noch die Reste vom Essen, Borschtsch, Blini, Saure Sahne. Zwischendurch übersetzt Hendrik immer mal wieder ein paar Sätze. Die langen Geschichten werden zu kurzen Sätzen. Aber das Schöne ist das Zuhören, ohne die Worte zu verstehen, die Körper dabei zu beobachten, was sie während des Redens machen.
Lost In Translation ist inzwischen zehn Jahre alt. Seitdem ist Google Translate in die Welt gekommen, mit dem es sich wenigstens bruchstückhaft erschließen läßt, was eine russische Website zu sagen hat. Wenn nicht gerade die Meldung erscheint: Wir konnten auf die angeforderte Seite nicht zugreifen.
So ist es, wenn man nicht nur Wikipedia vertrauen will, oder wenn das, was Wikipedia zur Verfügung stellt, nicht genug ist, nicht immer so leicht. Zum Beispiel, der Geschichte einiger Gebäude auf die Spur zu kommen, die es entweder schon zu Königsberger Zeiten gab oder die gerade für die sowjetische Zeit stehen sollten. Zwei dieser Gebäude will ich hier nach und nach vorstellen, nach und nach vielleicht auch, weil sich [hoffentlich!] nach und nach noch ein paar Fakten dazugesellen werden, aber die Genres, in denen diese Gebäude zu beschreiben wären, sind noch zu klären. Das eine ist das Haus der Sowjets, das andere ein Einkaufszentrum, dessen Name übersetzt Epizentrum heißt. Während die Dramaturgen hier im Hotelzimmer das Genre beraten, gibt es wenigstens Previewbilder.

Fehler, Buchstaben

Vor den Hochhäusern immer wieder kleine Verkaufsbuden, kyrillische Zeichen, beim Vorbeigehen, schnell lesen, auf einem der Schilder: Metadon. Ach was?! Falsch gelesen. Metafon. Eine Art Telefon, mit dem man sich austauschen kann, auf Meta-Ebene, über Verstehen/Nicht-Verstehen? Nein, einfach: Megafon. So schade.

Park “Junost” – 2

Zweig.

Beiywört.  Der sanfft=bewegte. schwancke. dick=belaubte. lang=gestreckte. unfruchtbare. nie=bewegte. gebogne. beblätterte. edle. hohe. gedehnte.

 Hamann d.Ä., Poetisches Lexicon

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Park “Junost” – 1

Der Park „Jugend“ ist ein Park, den man bei uns Vergnügungspark nennen würde. In der modernen Parkkultur dient das Vergnügen der Erholung der arbeitenden Bevölkerung und damit letztlich der Erbauung: Es ist nicht einfach Vergnügen, sondern wird einem höheren Nutzen zugeführt. Im Park „Jugend“ pflegt man das Vergnügen für die Allerkleinsten. Hier sind Mütter und Großmütter mit ca. Dreijährigen unterwegs, die sich vor allem für die singenden und springenden Schaukelpferde begeistern. Oder sich, halb konsterniert, halb überwältigt, auf echten Ponys herumführen lassen. Die meisten anderen Fahrgeschäfte befinden sich noch in der Winterpause, werden jetzt nach und nach enthüllt und mit Probeläufen getestet: Das Riesenrad, die Rakete „Kosmonaut“, das Drachenkarussell und die Welligen Venusmuscheln. Vor allem aber prägen sich die Fröhlichen Teetassen ein: in der Mitte stoisch eine bauchige Teekanne, drumherum kreiseln Tassen, in denen man Platz nimmt. Wäre man selbst als Kind gerne der Tee in solch einer Tasse gewesen?

In der Mitte des Geländes, deutlich erhöht, umgeben von einem Wassergraben, steht ein altes massives Schloßgebäude. Hier erklimmen einzelne, etwas größere Kinder die Freitreppe, werden einzeln eingelassen, manchmal löst sich die elektrische Türverriegelung und entläßt ein Kind. Sie haben hier Einzelsitzungen beim Psychologen, während draußen Arbeiter die Schlittschuhbahn abbauen, den Bänken und Blumenkästen einen frischen Anstrich verleihen, die Kästen sodann bepflanzen.

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Vergnügen.

Beywört. Das dauerhaffte. flüchtige. ehrerbietige. stille. geruhige. friedliche. gehoffte. gesuchte. gefundene.

Redens=Arten. Die mit Ehr=Furcht untermischte Lust. Brockes.  Ich verspühr, wie meine Sinnen vor Vergnügung fast zerrinnen, meines Geistes rege Krafft schmelzt vor Lust und Leidenschafft. idem   Die Anmuth, so in Blumen stecket, und der kein andre Anmuth gleicht, ist keinem andern Menschen leicht, als dem, der sie erwegt, entdecket.  Wer mit geruhigem Gemüth im Garten zwischen Blumen gehet, und, an den Schöpffer denckend, sieht, wie schön die Zucht des Frühlings stehet, verspühret ein Vergnügen, das sich durch sein ganzes Wesen schwinget; empfindet ein, ich weiß nicht was, das ihm durchs Aug ans Hertze dringet.  Es gehet, warlich, glaub es mir, kein andre Lust in unserm Leben der Lust der stillen Anmuth für.  Ich hab auch andre Lust empfunden, es gönnte mit GOtt mancherley; doch etwas, welches süsser sey, hab ich bishero nicht gefunden: Nun wünsch ich, daß es meiner Seele solch Unschulds=volle Lust nicht fehle. Brock’.  Durch sie kam auf einmal ein feuriger Vergnügungs=Strahl mir durchs Gesicht ins Herz geschossen; ich ward mit süsser Lust recht übergossen. idem  Kein Vergnügen kan auf Erden mit der Lust verglichen werden, die ein Mensch durchs Auge spühret, wenn ihm, was den Cörper zieret, nicht den äussern Sinn nur rühret; sondern, wenn er mit Bedacht alles Schönheit Quell betracht, weil sodann der Wercke Pracht ihn zu dem der sie gemacht, zu der Wunder Schöpffer führet. idem

Johann Georg Hamann d.Ä., Poetisches Lexicon

25. April 2013          27. April 2013