Kant in Königsberg

kant

Nach vollbrachtem Tagwerk auf den Spuren Hamanns Versuch eines gemütlichen Fernsehabends. Was kommt? Die Sendung „Kant“. Hunde, Katzen und Tauben lümmeln sich zu Beginn auf den Spuren Kants vor dem Dom. Dann läuft unten ein Band mit Annoncen entlang, auf dem Immobilien gesucht und angeboten werden, bevorzugt direkt an der Ostsee, während oben der kategorische Imperativ verhandelt wird. Eine Kant-Pappfigur wird durch K. getragen, auf den Brücken aufgestellt, man sieht Kants Konterfei flach vor der Aussicht. Eine Kant-Postkarte schwimmt im Pregel. Während rechts ein Fachmann über Kants Leben referiert, spielen links Schauspieler in historischen Kostümen nach, wie Kant sich in Gesellschaft verhielt. Kants Schattenriß wird durch K. getragen, und man sieht, wie sich der Schatten der Pappe mit Hut und Stock auf dem Straßenpflaster voranbewegt. Die Museumsführerin im Museum vor einer Handschrift. Während links ein Fachmann über Kants Werk referiert, sieht man rechts Brocken durchs Weltall fliegen. Auch Planeten, schöne runde Himmelskörper, aber vor allem Brocken. Unklar, was links jetzt das Thema ist. Der Sternenhimmel über mir? Das Transzendentale? Kants Antipoden?

Schwimmen

reading_h

Ich sollte vor dem Schlafengehen wirklich kein Styropor mehr essen, sagt Virginia über Skype zu mir, ich stelle mir vor, wie sie sich dabei die Hand an den Kopf hält, ein wenig gegen die Stirn drückt, oder sich die Schläfen massiert, damit die Kopfschmerzen weggehen, aber all das sehe ich nicht, ich kann sie nur hören.
Und ich sollte nach dem Aufwachen erstmal die Regeln lernen, bevor ich losgehe, sage ich zu ihr. Die Regeln eines Raums kann man ja auf zwei Weisen kennenlernen: Entweder du lernst die Hausordnung auswendig, verinnerlichst sie bis in die letzte Silbe hinein, und wenn du das Haus betrittst, handelst du automatisch, wie du sollst. Oder du gehst rein und lernst vor Ort, wie das Ding funktioniert, ergänzt Virginia, ich nicke, auch wenn sie mich nicht sehen kann.
Das Schwimmbad ist von innen in Gelb und Weiß gestaltet, genau so, wie das Haus des Sportklubs Albatros auch von außen gestaltet ist. Der Pool im Schwimmbad hat eine Länge von fünfundzwanzig Metern. Im Whirlpool in der Ecke haben sich einige Frauen versammelt.
Kaum bin ich eine Bahn geschwommen, sage ich zu Virginia, passiert was? Deine Badehose löst sich auf oder so?, fragt Virginia. Nein, viel schlimmer, sage ich, eine Frau kommt an den Beckenrand, offenbar die Bademeisterin, in einem rosafarbenen Polohemd, und ich sage schnell auf Englisch: Bitte nicht ansprechen, ich bin nur Deko! Doch sie zeigt auf meinen Kopf. Dein Toupet?, fragt Virginia. NEIN!, sage ich, als ich endlich verstehe, daß ich eine Badekappe bräuchte, um hier zu schwimmen, nein, ich habe keine, ich bin zum ersten Mal hier, ich wußte das nicht! Ich sage es so dramatisch, als wäre ich Teil einer Soap Opera und hätte aus Versehen mit dem Partner von jemand anderem geschlafen, weil ich nichts von dieser Partnerschaft wußte, nochmal: ICH WUSSTE DAS NICHT! Und vor allem weiß ich nicht, wie ich es ihr erklären soll. Da fängste ganz schön an, zu schwimmen, sagt Virginia, ich sehe vor mir, wie sie mir dabei mit einem Auge zuzwinkert, Smileyhaft. Nachdem die Bademeisterin zwei Minuten auf mich eingeredet und immer den Kopf geschüttelt hat, wenn ich etwas sagte, sage ich zu Virginia, geht sie und kommt mit einer schwarzen Kappe wieder, die ich ausleihen kann.
Kaum bin ich noch zwei Bahnen geschwommen, passiert das nächste, sage ich. Jetzt das mit dem Toupet, sagt Virginia. Ein dicker russischer Mann springt vor mir in die Bahn, bleibt stehen, ich schwimme an ihm vorbei, und als ich zurückkomme, sind noch drei weitere dicke Männer dort, stehen in der Bahn herum, alle mit derselben schwarzen Badekappe, und nach wenigen Minuten haben sich dort sieben oder acht von ihnen versammelt, nur einer hat eine rotweißgestreifte Kappe, ansonsten alle die eine schwarze, und die stehen da nun. Stehen fünf Minuten, stehen zehn, zwanzig Minuten, und ich schwimme immer um sie herum, um irgendwie eine Bahn hinzubekommen. Dann, schlagartig, nach zwanzig Minuten, verschwinden sie alle. Und nach wieder zehn Minuten sind alle zurück, springen wieder, die Nase zugehalten, vom Beckenrand ins Wasser und stehen herum. Nach gemeinsamem Saunabesuch: wieder Rumstehen. Ich frage mich, was sie da genau machen. Tauschen sie (a) Drogen oder (b) einen kleinen transparenten Flachmann, den man im Wasser natürlich nicht sieht oder (c) einfach nur Worte? Stehen die hier nur, um sich auszutauschen? Wie andere anderswo im Park Schach spielen oder Boule und dabei reden, ist hier Samstagmorgen um acht Uhr Herumstehen im Schwimmbecken das Programm. Ich würde gern verstehen, warum, vor allem, warum es mich irritiert, daß sich hier Männer zum Reden verabreden, als könnten es eigentlich nur Frauen sein. Eine weitere Regel dieses Raumes? Genauso, wie Badekappen obligatorisch sind, sind Samstagvormittage vielleicht mit dieser Versammlung von Männern verbunden, die irgendwo auch einen Ort brauchen, um sich zu feiern, und sei es nur, indem sie da sind. Wie Jugendliche, sagt Virginia, die einfach auf einem Parkplatz rumhängen oder in der Mall. Vielleicht, weil die Männer das noch von früher kennen, wo sich alle im Park versammelten oder an anderen Orten, wo der kollektive Geist gefeiert werden konnte. Und da ich kein Wort verstehe, das sie reden, kann es ja gut sein, daß sie hier philosophieren, so wie Hamann über Sokrates schreibt: Seine Philosophie schickte sich für jeden Ort und zu jedem Fall. Und Virginia liest an dieser Stelle weiter vor, mit dem Hamann-Bändchen raschelnd: Der Markt, das Feld, ein Gastmal, das Gefängnis waren seine Schulen. Oder meinst du, frage ich, das so zu auszulegen, das Schwimmbad als Schule der Philosophie, wäre übersensibel? Und Virginia sagt: Sensibilites, Schmensibilities, und fügt hinzu, wieder raschelnd: Wie die Natur uns gegeben, unsere Augen zu öffnen, so die Geschichte, unsere Ohren.

es trübt ein… auf sich selbst geworfen

an diesem Abend verlieren sich die Straßen Kaliningrads in Schwaden
werden sanft geschluckt. mit den Zerstreuung suchenden Männern

im Gedränge – oder Gewimmel: wie das klare Gehirn Kants voll Maden.
der Sinn der Sprache verliert sich im Selbstbezug. wie den Andern

mit mir selbst, meinen eigenen Bedingungen (a priori?) beschreiben.
allein die Erlöserkirche, ihre Kuppel sieht man noch, golden blinkend.

wenn mich Sprache geformt hat, was wird dann inwendig bleiben
außer gelernten Phrasen, ihren Verschiebungen. schön, zu versinken

im Grau, der Feuchtigkeit, dem Lärm und den Instinkten, der Kühle.
nicht Lust oder Anerkennung, Kitzel oder Licht. solange du gefangen

bist, suchst du Zurückweisung zu meiden. die Linie getilgt zu fühlen:
gänzlich entblößt, gescholten – doch begehrt und selbst voll Verlangen

26. April 2013          28. April 2013