Dominsel

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„Wir haben die neuen Naturwissenschaften erlebt: unser Auge ist subtiler geworden, rechnerischer, es sieht mit der Erscheinung der Pflanze zugleich ihren inneren Bau. Die allgemeine Evolution der Technik ist über uns dahin gebraust, mit ihren Massenprodukten und ungewohnten Konstruktionen: unser Auge ist an starke Gegensätze gewöhnt, empfindet freisinniger, es fühlt das monotone Ein-bei-Ein der Bäume des Forstes so groß, wie es beglückt auf der abspannenden Unbegrenztheit des Meeres, der schönen Öde der Heide oder der farbigen Weite der Wüste ruht – wir sind neue Menschen!“

Leberecht Migge, Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts

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Man stößt in dieser Stadt ungewöhnlich oft auf Häufungen von Porträts. So hängen an unserer Hotelfassade Simon Dach, Kant, E.T.A. Hoffmann, Erlichshausen, Albrecht, Ottokar, Wilhelm, Friedrich und der Große Kurfürst. Immerhin mit Bildunterschrift versehen. In der Universität hat jede Abteilung ihre Porträts, die modernen von den Lehrenden, die älteren von den Klassikern, allerdings ohne Beitext. Bei den Anglisten, wurde uns erzählt, gehört zum Einstellungsverfahren der Test, die Porträts der englischsprachigen Schriftsteller fehlerfrei zuordnen zu können. Gewinnen sie also erst Bedeutung, wenn man weiß, wie sie heißen? Kommt hier nicht gleich wieder die Frage nach der Übereinstimmung von Name und Gegenstand auf?

Wer macht denn bei euch Bühnenbild? Die Stadt, Stupid!

-    Ist das endlich der dritte Akt?
-    Nein. Siehst du langsam, wo uns dein Amateurwirrwarr hingebracht hat?
-    Ich bin Profi, seit ich ein Kind war, ja?
-    Und ich war in Trance. Bin ichs noch? Oder was ist DAS?

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Daß die großen Städte in den vergangenen zwanzig Jahren immer mehr zu Bühnen geworden sind, ist vielleicht das, was sie – egal auf welchem Kontinent – miteinander verbindet. Und die Kunst hat das vorbereitet. Spätestens seit den Sechzigern hat sie mit dem Raum zusammengearbeitet, hat sich ortsspezifisch mit den konkreten Dingen beschäftigt, mit den Beziehungen, Materialien, Armseligkeiten urbaner Orte. Oft waren dabei die Orte selber aufregender als ihre Bespielung. Doch in der bildenden Kunst und auch in Theater und Performance ist site-specific immer noch groß, und je mehr und größer das Ganze wird, desto größer wird auch das Gerede von der Stadt als Bühne.
Und auf einmal scheint die Geschichte der Kunst überhaupt nicht viel mehr zu sein als eine Litanei, ein Gebet, das einen Ort nach dem anderen anruft. Wie in einem Baedeker, zerlesen, aber noch vollständig, in den jedes Monument gewissenhaft eingetragen ist, drehen sich die Erzählungen ja sowieso fast immer um die Orte der Künstler. Als ob die Kulissen irgendwas von dem Sinn preisgeben könnten, den die Kunst vielleicht gar nicht hat.
Und dann DAS: diese Ecke Stadt. Dieses Stückchen Showbühne mitten in Kaliningrad, eine abgerissene Ecke eines wahrscheinlich bald abzureißenden, ebenerdigen Ladenlokals. Was wurde hier verkauft? Möbel und Dekoration, wie man noch erkennt, denn ein riesiger Materialhaufen liegt hinter den Fensterscheiben. Und an der einen Seite des Gebäudes fehlt etwas, ein ganzer Raum, der wie aufgesprengt wird. Als hätte sich hier eine Armee durch ein Gebäude durchgebombt, wie es heute im Nahen Osten nicht unüblich ist.

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Aber reden wir von dem, was hier zu sehen ist, nicht als Verfall! Dieses Stück Bühne: Welcher Bühnenbildner könnte das übertreffen? Links eine Tür, in der Mitte Schrift, rechts ein Wandprospekt auf Beton, mit Löwenstatuen, Dornenhecke und einem Turm in der Ferne, vielleicht der Dom. Und hinter dem ganzen ragt noch ein Wohnhochhaus auf.
Laß uns starten! Das wäre der ideale Ort, um die GANZE Geschichte zu erzählen, oder es zumindest zu versuchen: Wie aus dem alten Königsberg Kaliningrad wurde, wie aus dem kommunistischen das kapitalistische Kaliningrad wurde, und wie immer noch die Frage virulent ist, was denn nun werden wird. Ich stelle mir vor:

- Kinder, verkleidet als Kant, Hamann, Hoffmann, Hannah Arendt, und wie sie alle heißen, deren Texten die Kinder deklamieren
- ein Re-Enactment der Krönung Friedrichs I. nach dem Gemälde von Anton von Werner
- der Autoscooter aus einem Königsberger Vergnügungspark von 1941, installiert auf der Betonfläche
- ein Tanzensemble, das die Elefantenparade deutscher Kolonialtruppen durch Königsberg nur mit den Körpern der Tänzer nachstellt
- wandelnde und singende Hochhäuser, die unter anderem ein Chanson in Kurt Weill-Manier zum besten geben, am Piano begleitet von einem deutschen Lyriker
- die Jugendtrommelgruppe vom 1. Mai 1978 kommt nach fünfunddreißig Jahren wieder zusammen, alte Freundschaften, Liebschaften und Feindschaften blühen wieder auf
- Löwenstatuen- und Lenindenkmal-Kostüme aus Schaumstoff werden zur Schau gestellt
- Prostituierte jeden Alters und jeden erdenklichen Geschlechts rufen die Republik der Liebe als Business aus
- eine Militärparade dressierter Sowjetflöhe
- eine Séance zur Kommunikation mit Kalinin, durchgeführt durch Mütterchen Rußland
- eine Big Band aus allen Straßenmusikern dieser Stadt
- einige Tür-auf-Tür-zu-Komödienelemente, auch wenn es nur eine Tür gibt
- die Kokosnuß des Kapitalismus
- und am Ende könnte die kleine Betonfläche noch schnell mit Eis beschichtet werden, damit das Finale à la Holiday on Ice auf Schlittschuhen, mit Pelzmützen und Muff stattfinden kann!

Wär das nicht FUN-TAS-TISCH?

Oder müssen den ganzen Scheiß vergessen und diese Ecke Stadt einfach das sein lassen, was sie ist? Verdammt, ja! Weil sie wahrscheinlich für jeden was ganz anderes ist. Vielleicht müssen wir die Dinge einfach nur sein lassen, in einer Welt, in der das urbane Leben noch viel spektakulärer geworden ist, als es sich Breton, Nieuwenhuys und die Situationisten zusammen vorgestellt haben. Und während das ältere Ehepaar, das sich wundert, warum ich die Straßenecke überhaupt fotografiere, vielleicht erinnert, was in diesem Ladenlokal alles schon beheimatet war, was und wer, bin ich wieder nur darauf aus, den Schauwert zu bestimmen und am besten noch zu steigern, was zu steigern ist. Irgendeine Aufgabe brauche ich doch! Wie Thomas Pynchon schreibt: Es ist der alte Fluch des Showbusiness, verstehen Sie? Man sucht Arbeit und ist mit allem einverstanden.
Deshalb vielleicht denkt irgendwas in mir darüber nach, wie damit umgehen, daß das alles passiert, daß die Bühne nicht auf die Bühnen beschränkt geblieben ist, sondern sich immer mehr ausgebreitet hat und noch ausbreitet, zusammen mit einer Logik des Geldes, die inzwischen alles lieber sein will als Logik des Geldes. Logik der immerwährenden Performance zum Beispiel. Performance als Darstellung. Performance als Leistung. Performance als energetischer Aufwand.
Wenn die Performance nicht ausgestellt wird – notfalls mit einem stark ausgestellten Kleid –, wie soll ich dann aushalten können, daß es diese Performance gibt? Wenn sowieso alle die ganze Zeit spielen, warum sollen wir dann nur bestimmte Dinge spielen können?: weiß, christlich, heterosexuell, fit, gebildet, aber nicht intellektuell, und am besten noch männlich. Klar, es geht immer noch einfacher, bis nichts mehr übrig ist. Aber diese Ecke Stadt, die da auf einmal war, ist doch alles andere als einfach. Und sie ist vielleicht gerade darin normal. Von dieser Art von Bühne würde ich gern mehr sehen, anstelle einer überdimensionierten, überteuerten Glas-Stahl-Architektur des großen Empires, die in jeder Stadt gleich ist, sich aber für besonders hält, und auf alle anderen zeigt und zischt: Keine dieser anderen Städte ist es wert, erniedrigt zu werden, wenn die sich einmal im Spiegel sehen, geht das ganz von allein. Die einen werden Shopping Malls, die anderen Parkplätze, Tankstellen oder einfach Müllhaufen.

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beiß, Vorstadtköter, beiß

… oder hiess es nicht beiss? Verzeihung, hieß es nicht Gebiß? Gebiss!
träum nicht, verwirr dich nicht in den Wirren der Rechtschreibreformen, ob g oder h, ob ß oder ss, sie lauern dir auf (blaue Passagen=Tondatei)
  laut und deutlich       Hund

ich werde fliegen, ich werde geflogen sein. ich werde Rußland überfliegen, wie mir einst träumte: das seligmachende Land der Unschärfe. müsste ich mich korrigieren: der seligen Verschwendung?  rumble and roll

there’s a rumble in Kenig tonight. wieso werd ich nicht zurückgerufen? wir berufen den Dichter in die Botschaft ein. ich werde zurückbestellt. mein Auftrag ist erloschen. will mich niemand hören? Niemand! Niemand, der Kündbare? der Verkündbare! ein Dichter! liebe Psychiater, ihr seid hier zusammengekommen, um einer Dichterlesung beizuwohnen? wohlan. so mag es geschehen (mit Kopfhörer lauschen!)  Dichter Anticafe

und irgendwo, vor einem einsamen Denkmal des Konsums, steht ein blinder Mann und spielt Trompete für die Geister der Vergangenheit.  Trompete

Hochhinaus Vol. 1

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Verstehen

Jörg schrieb anschaulich davon, wie fremde Gewohnheiten und Strukturen das eigene Verstehen neu definieren. ich möchte ein paar scheinbar “typisch” russische, banale, aber doch irritierende Verständnisblocker ergänzen, die auch in Kaliningrad zu finden sind

- in der ganzen Stadt stehen Taxis, die aber kaum jemand zu nutzen scheint, verständlicherweise, denn telefonisch georderte Taxis (ohne Taxizeichen) sind dreimal so günstig. wie lange warten die “regulären” Taxis auf Gäste? Woche? Jahre? und wenn nicht: wer steigt dort ein? die Taxifahrer selbst können es nicht beantworten.

- der gotische Putz der Frauen, die sich für irgendein imaginäres Wesen stylen, denn, zumindest dem Anschein nach, kann es nicht der grobe Blick der russischen Männer sein, der kaum eine der Feinheiten ihrer Zurichtungen wird angemessen würdigen können – oder doch? auch macht man es sich zu leicht, wenn man es auf das Schema herunterschnitzt: hier hübsche  Püppchenfrau, dort geldanschaffender Klotz. denn, biblisch gesprochen, genetisch zu beweisen, sie sind eines Ursprungs. daran schließen etliche Fragen an. zum Beispiel wer hier eigentlich Schönheit definiert anhand welcher Einstellungen und Gewohnheiten

- wenn doch, wie es heißt, die russische Gesellschaft so stark konventionalisiert ist und das Leben auf Arbeit und Kinder hinaus läuft, warum werden dann die Zäune von unten nach oben gestrichen und die Kinder oft hart von oben nach unten gemaßregelt?

irgendwann legen sich diese Fragen, löst sich vieles auf wie auch die fremde Sprache irgendwann etwas Selbstverständliches bekommt. dann scheint alles erklärbar. immer ähnlicher dem was man kennt. als ob es nur um Nuancen ginge. das Unverständliche nistet sich im Gesamtkörper Logos ein und verfleischlicht sich. aber möchte ich das? ist das Unverständnis nicht höher zu schätzen? verliert der detailgenaue Blick nicht das erhabene Gefühl des Horizont-Panoramas aus den Augen: dort ist etwas, was ich nie erreichen werde.

interessant ist auch der Blick, wenn man nun, in die Fremde eingewohnt, das Vertraute neu erfährt: wie kann es sein, dass Deutschland als Land der Technologen und Ingenieure noch immer, was das Internet angeht, auf Krücken läuft, während hier jeder zweite Bus, jedes Kaufhaus und jedes Restaurant und Hotel ganz selbstverständlich mit kostenlosem W-Lan ausgestattet ist? welche Mentalität steckt dahinter? warum drehen die meisten Deutschen, ob arm oder reich, jeden Cent um und zählen und teilen und ordnen zu? und so weiter und so weiter … alte Fragen – viele Antworten, aber wenig befriedigende.

drei Schriftsteller in Kaliningrad, die zu verstehen versuchen!
Video "drei friseure".

die Frage hinter diesen Fragen bleibt ja: wie ist unsere Wahrnehmung strukturiert und welche Sprache sucht sie sich? und ist uns damit geholfen? nun müssten soziologisch-historische Fragen anschließen.
ich belasse es dabei, möchte lieber Alexej Parschtschikow zitieren, aus dem Poem “Geld”:
“Geschichte ist ein Sack, drin Geld in unfassbaren Mengen.
Doch gibt es eine Geschichte dieses Sacks.
Wer macht den Knoten, um ihn an den Wanderstock zu hängen?
Derselbe, der die mächtigen Jahrhunderte dann trägt?
Wo wird sein Träger hingehn? (…)
Und wer war nun für wen Figur einer Intuition?”

der Körper der Sprache

wenn man in die fremden Gefilde einer Sprache eintaucht, die man nicht versteht, ist alles zunächst Magie, schwarze oder weiße. dann beginnt man zu lernen. aus der Umwölkung einer gleichsam benebelnden Ganzheit schälen sich mit den mühsam erlernten neuen Wörtern auch die Schemen einzelner Dinge, auf die die Unverbrauchtheit überzugehen scheint. Es ist, als lernte man die Welt noch einmal neu kennen, als könne man der Geburt des Logos aus den fünf Sinnen, von der Hamann spricht, förmlich zuschauen, von der Warte seiner alten Sprache aus.

und doch wird man nie so mit der fremden Sprache vertraut sein, wie mit der frühesten. der Faszination und Erneuerung ist immer auch eine Verfremdung, Befremdung beigemischt. oft, wenn man dann einige Phrasen kennt, zahlreiche Ausrufe zu dechiffrieren weiß und etliches vielleicht nicht versteht, aber bereits oft gehört hat, kann man sich dennoch nicht ganz hineinfühlen in diese Selbstverständlichkeit, mit der sie gebraucht werden. man beobachtet und erfreut sich an der Sprache, hantiert mit ihr fröhlich, aber bewohnt sie nicht. umso mehr kommen einem die Phrasen, Sätze, Wendungen dann zuweilen mechanisch vor, automatisiert fast und damit auch die Träger der Sprache. wie in einer Umkehrung der hamannschen Idee, dass der Logos aus einem lebendigen Körper hervorgeht*, scheint die wie auswendig gelernte klingende Sprache vielmehr in einen Puppenkörper zurückzukehren. das Individuum wird unter diesem Blick von Außen zu einem Typus, den er nurmehr beispielhaft verkörpert, auch da, wo der Typ selbst noch nicht definiert ist.

 

* “Was für ein Magazin macht die Geschichte der Gelehrsamkeit aus! Und worauf gründet sich alle? Auf 5 Gerstenbrodte, auf 5 Sinne, die wir mit den unvernünftigen Thieren gemeinschaftlich besitzen.” (aus: Brocken)

 

junge Rebellen

gestern die Lesung eines aufstrebenden Rebellen. er zittert, schleudert seine Gedichte heraus, blinzelt mit geschlossenen Augen wie ein Maulfwurf aus der Grube seiner Eitelkeit in die Luft und frisst das Mikrofon. seine Gedichte scheinen düster, ein wenig gewaltsam, aber treffsicher, wenn auch ein wenig banal. allein, dass sich da jemand heraus nimmt, nicht nach dem klassischen Bild des Dichters zu funktionieren (das hier so lebendig ist), verstörte die Gäste und den Moderator. anstatt ihm offen zu begegnen, wollte man mit Gewalt ein Konzept aus ihm herausquetschen, seine private Folie mit derjenigen abgleichen, die im Kopf bereits implantiert war als Norm. er wehrte ab und es wurde ihm leicht gemacht. Fragen nach Heimat, Kinderwunsch oder einfach danach, welche Revolution er denn anzetteln wolle, wich er aus, ambivalent mit Verweigerung und Konfrontation spielend. als dann die klugen Fragen kamen, war er bereits aus dem Spiel und entblößte sich ein wenig als posende Rückseite des Bösen. also nicht der Gute? jenseits – von was?

Bartfeld übersetzte live: noch sanft   dichter mit bartfeld

hier wurde es schon wilder:  Diskussion Liebe

doch das Thema des Abends war, dies nicht zu vergessen: DISKOMFORTNOST. Als Unbequemheit vielleicht zu übersetzen. noch eher: Ungemütlichkeit, null Komfort.
die lebendige und zum Teil wilde, absurde Diskussion verfolgte dieses Ziel hartnäckig, aber letztlich war der Abend gerade deswegen gelungen (und also nicht ungemütlich). man wünschte sich solche verbalen Saalkeilereien einmal bei deutschen Lesungen. ein Hoch auf alle, die sich so um die Sprache streiten!

am nächsten Tag dann der erste Mai. dort waren vielleicht diejenigen, die die gestern noch die Fragen nach der Heimat gestellt hatten. hören sie selbst den Sprachvergleich.  LDPD

nun ja, das war die rechte, “liberale” Partei, nachdem die Kommunisten gegangen waren. Schande über alle, die in Inhalt, Gestus und Intonation die russische Sprache so hinabziehen.

1. Mai 2013          3. Mai 2013