Die Stadt im Quadrat Teil I

Bevor mir Jörg alles wegfotografiert, hier nun mein eigener, spezifischer Blick mit der Kamera. Mein Augenmerk war auf allem Angeordneten, Rechteckigem. Die Stadt zum Quadrat, die Stadt in der Ordnung des Blicks.

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Namen machen Häuser, Häuser machen Städte Vol. 2

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Also, weiter mit der Story: Die Nazis benannten das Haus der Technik 1935 um in Schlageter-Haus. Schlageter Schlageter, unterbricht Virginia mich, kaum habe ich angefangen, da ist er wieder: Albert Leo Schlageter, Aktivist im Kampf gegen die Franzosen während der Ruhrbesetzung, 1923 zum Tode verurteilt, unter anderem wegen Sprengstoffanschlägen. Und anschließend, ergänze ich, von rechtsextremen Gruppierungen zum Märtyrer stilisiert. Vergleiche, sagt Virginia, meine nie abgeschlossene Hausarbeit im Hauptseminar: Linker und rechter Terror im Ruhrgebiet in der Weimarer Zeit, Wintersemester, öhm, 2004/05, glaube ich, an der Ruhr-Universität Bochum, in der ich mich vor allem mit der sogenannten Schlageter-Kompanie beschäftigt habe oder beschäftigen wollte, einer als Wanderverein getarnten, verdeckt agierenden Untergrundeinheit, die Arbeitslose im Ruhrpott zum Eintritt in die Reichswehr bewegte. Im Namen des Geistes von Schlageter?, frage ich. Im Namen der Gänsefüßchen eisernen Disziplin Gänsefüßchen, sagt Virginia, und unter dem Banner des inzwischen wohlbekannten Hakenkreuzes.

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Das Schlageter-Haus büßte übrigens im Laufe des Krieges sein Dach ein und war daraufhin einfach offener Marktplatz. Aber was, was genau motivierte wohl, weitab von Schlageters Einsatzorten Essen, Bottrop und und Duisburg, die Nazis, ausgerechnet in Königsberg das Haus so zu nennen?, frage ich Virginia. Die klickt sich nebenbei durch alte Uni-Dateien und erzählt, aus dem Gedächtnis oder ablesend, das kann ich nicht sehen: Die Distanz zum Ruhrgebiet ist dabei ziemlich egal. Schlageter war ja Märtyrer und dadurch überall! Es gab Theaterstücke wie Hanns Johsts Prototyp des nationalsozialistischen Dramas mit dem einfach zu merkenden Titel: Schlageter, UND es gab die Antrittsrede eines Philosophen mit H, natürlich nicht Hamann, Antrittsrede als Rektor in Freiburg, in der dieser Philosoph Schlageters Hinrichtung als Gänsefüßchen den schwersten und größten Tod harten Willens und klaren Herzens Gänsefüßchen feierte, UND es gab für Schlageter bis zum Ende des Krieges wohl an die hundert Denkmäler, teils schon in der Weimarer Republik. Unter den Nazis hießen auch Luftgeschwader, Kasernen und Brücken nach Schlageter. In Bottrop nennen manche Leute heute noch die Stadtteiche Schlageterteich, wie auch hier einige noch am Telefon nicht das Epizentr, sondern das Schlageter-Haus verlangen. Das Epizentrum welcher historischen Beben ist das hier also?

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Ein Hamannhaus gibt es dagegen gar nicht, sagt Virginia, oder doch? Nein, wenn du googlest, kommst du zumindest nur auf die Hamann Haus GmbH Hausbau in Berlin. Und was lernen wir daraus?, frage ich. Keenen Plan. Daß es immer die Ideologie ist, die die Namen wählt, ob Nationalsozialismus oder Neoliberalismus! Ist er nicht fantastisch, sagt Virginia, und zeigt auf mich, ohne auf mich zu zeigen, aus allem macht er einen moralischen Anschauungsunterricht. Tja, I hate being a role model. Aber jetzt muß ich zum Mittagessen, wir sprechen!

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Geheimnisvoll ist die Ökonomie selbst, Schätzchen!

Samstagabendkorrespondenz: Du bist doch jetzt der Experte, schreibt mir Dario, du mußt mir weiterhelfen bei der Entwicklung dieses Online-Tutorials: Wie lese ich Hamann? Zum Beispiel: Hat es eigentlich einen tieferen Sinn, daß Hamann Metaphysick schreibt und Ästhetick? Ist das reine Sache der Rechtschreibung [siehe: die Ausführungen Deiner Kollegen Hendrik und Marion zu Orthographie]? Oder hat Metaphysick mit Sickness zu tun und Ästhetick mit Ticks? Ich schreibe dir später, antworte ich, erstens bin ich tatsächlich sick [Erkältung], und zweitens beginnt gleich mit der Ostermesse die Ästhetick.
Beim Besuch des Gottesdienstes sollte dann das Metaphysische ins Zentrum rücken. Doch kaum bei der Christ-Erlöserkirche angekommen, dem höchsten Gebäude der Stadt, schieben sich die höheren Gründe des Seins erstmal in den Hintergrund zugunsten diverser Inszenierungen.
Stufe Eins: der Vorplatz, abgeriegelt, Gitter, Sicherheitsdetektoren und vor allem massive Polizeipräsenz. Die Uniformen der hiesigen Polizisten, die im Vergleich zu der deutschen, eher nach Wachtmeister aussehenden Polizeikleidung, wesentlich militärischer wirken, die hohen Mützen, wie man sie von den Berliner Flohmärkten und Ostalgiesouvenirständen zu kennen glaubt, der Schnitt von Jacken und Hosen, alles versprüht – auch wenn das Militärische an sich nicht behagt – wesentlich mehr Glamour als deutsche Polizeiuniformen. Und Glamour macht Angst, auch hier.
Stufe Zwei: in der Kirche. Hier inszenieren sich die Bewohner der Stadt als Gläubige. Die Frauen bedecken ihre Haare. Kerzen werden angezündet. Junge Männer sind allein dort, um mit den anderen zu beten, und wenn sie mit ihrer Freundin da sind, dann wegen ihrer Freundin, auf die sie immer wieder schauen, während sie beten. Fotografen versuchen, charismatische Gottesdienstbesucher abzulichten, die sich entweder verweigern oder versuchen, besonders fromm auszusehen. Eine Frau beschwert sich bei zwei Ausländern, weil die zu laut reden und sogar zu laut lachen.
Stufe Drei: vorne. Das Zentrum der Blicke. Die Ikonostase. Im Siebenjährigen Krieg gefertigt, über Stockholm und Hamburg Mitte der Neunziger nach Kaliningrad gekommen. Von hier aus wirkt die große Inszenierung, die den avancierteren Stadttheateraufführungen in Deutschland ebensowenig nachsteht wie Performances freier Gruppen. Schon als die Besucher der Messe hereinkommen, werden aus dem Off die Evanglien gelesen. Eine gute Form von Einlaß: Du bringst das Publikum in Stimmung, noch bevor es losgeht, eine Mischung aus Auflockern und Anspannen, genau richtig. Währenddessen geht eine der drei Türen der Ikonostase – golden, auf ihr ist ein Christusportrait appliziert – immer wieder auf, und einer der Priesterdiener tritt heraus, schaut in die Zuschauerschaft, als wolle er jemanden sichten oder nur schauen, ob nun genügend Publikum anwesend ist, er schaut die Menschen an, STARRT sie an, dann geht er ab, die Tür schließt sich. Kurz nach der angekündigten Anfangszeit haben dann die Priester ihren Auftritt, noch nicht in den prunkvollsten Gewändern allerdings, einige kommen aus der Ikonostase, andere tauchen unter den Zuschauern auf, alle aber einzeln. Einzeln treten sie an das Mikrophon, das mitten unter den Zuschauern steht, und beginnen ihre Lesungen in Singsang. Das Sprechen in Mikrophone, auch das ein beliebtes theatrales Mittel spätestens seit den neunziger Jahren in der deutschsprachigen und angrenzenden Theater- und Performancelandschaft. Genauso wie interaktive Elemente: Die Menschen beginnen, kaum hat der erste Priester angefangen, sich zu bekreuzigen, und sie hören gar nicht mehr auf, immer wieder und wieder. Die Bühne bleibt indessen weiterhin unbevölkert, in ihrer ganzen Pracht, verweist aber in dieser Herrlichkeit auf das, was dahinter vor sich gehen mag. Wie könnte Transzendenz anschaulicher inszeniert werden als hier, wo alle warten und warten und aus der betenden Zuschauerschaft heraus auf die Bilder des Glaubens eingeredet wird? [Erst am nächsten Tag erzählt Marion, daß sich, nachdem wir die Messe verlassen haben – zumindest in der Fernsehfassung dieses Ereignisses –, die Ikonostase noch öffnete, um die Priester in voller Gewandung zu zeigen.] Nach einer Stunde Dauergebet und Dauerbekreuzigung ohne erkennbare Höhen und Tiefen ist klar: Es ist eine Durational Performance, die hier abläuft. Dramaturgische Spitzen werden absichtlich nicht gesetzt, es geht darum, sich in der gleichbleibenden Bewegung von Worten, Händen und goldenen Türen zu verlieren, in eine Art Trance zu kommen und darin über Dinge nachzudenken, an die man sonst nicht herankommen würde. Von zweiundzwanzig Uhr bis vier Uhr theatrales Dauerprogramm.
Auf dem Weg nach Hause – so schließe ich meine lange Beschreibungsmail an Dario ab – muß ich an eine Inszenierung von vor wenigen Jahren denken, und dreimal darfste raten, welche!? Das ist nicht schwer, schreibt Dario zurück: Du meinst sicher Die Kontrakte des Kaufmanns, von Jelinek, inszeniert von Nicolas Stemann, die du in Hamburg gesehen hast, ich in Köln, und wo die Zuschauer auch über Stunden berieselt wurden und immer mal wieder rein- und rausgehen durften. Der Unterschied ist das Thema: Bei Jelinek/Stemann gings um Ökonomie. Meine Antwort: Und genau darin,Dario Damiano, sehe ich keinen Unterschied, sondern die wesentliche Verbindung. Zum Beispiel könnte man mit Giorgio Agamben fragen:

Warum braucht die Macht die Herrlichkeit? Wenn sie wesentlich Stärke, Handlungs- und Regierungsfähigkeit ist, weshalb tritt sie dann in der »glorreichen«, das heißt strengen und schwerfälligen Form der Zeremonie, der Akklamation und des Protokolls auf? In welcher Beziehung stehen Ökonomie und Herrlichkeit?

Und wenn Agamben den logos, das Wort Gottes, als wesentlichen Teil von Ökonomie sieht, also von Herrschaftspraxis, was würde Hamann zu diesem logos-Begriff sagen? Bada bing bada boom, antwortet Damiano, mal ehrlich, Jörg, gehts noch komplizierter?
– Na, immer doch.
– Ist ja wie ein Wettbewerb für Bilder, auf denen man den Abgebildeten nicht erkennen kann.

4. Mai 2013          6. Mai 2013