»Unser eigen Daseyn und die Existentz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden.«
Ich muß also glauben an:
- die Wohnung zuhause, die sich, kaum bin ich weg, freut, endlich mal wieder allein zu sein
- die kleine Handschrift der Frau vom Übergepäckschalter, durch Kohlepapier gedrückt
- das Gefühl, Tage lang geschlafen zu haben, auch wenn es nur fünf Minuten in viertausend Metern Höhe waren
- das Gefühl danach, Monate lang nicht geschlafen zu haben
- die Ruine des Flughafens von Kaliningrad, bei der wir uns nicht drauf
einigen können, ob die Kuppel, die nur als Gerüst existiert, gerade ab-
oder aufgebaut wird
- die Ruine der Burg Schaaken, in der zwei Wassertürme uns mit ihren
Geräuschen ablenken und Plastikskelette im Folterkeller klappern
- die Störche in den Dörfern nordöstlich von Kaliningrad, ihre Größe,
ihre Menge und ihr guter Geschmack, was Nistplätze betrifft
- die Gesten und Sätze der russischen Schriftsteller, mal auf Russisch,
mal auf Deutsch, mal auf Englisch, aber egal, in welcher Sprache, so
gesetzt, mit so einer Freude, daß immer klar ist, daß das gerade eine
Pointe ist
- ein Dutzend Äpfel im Supermarkt, die sich, als niemand in der Nähe
ist, dazu entscheiden, herunterzurollen und die Schwerkraft zu testen
- einen kaputten Hochhausblock hier im Leningrader Rajon, dessen
einzelne kaputte Elemente noch en détail beschrieben werden müssen [die
Qualität ihres Wartens]
- die Seltsamkeit dieser Stadt [von Stadt überhaupt?!], wenn sie es sich
leisten kann, komplett umzuschlagen, wenn du nur einmal um die Ecke
biegst, Plattenbau da, Villenviertel hier
- mein Mobiltelefon, das mir vorm Einschlafen noch schnell sagt:
Willkommen in Ruland. Sie nutzen den Auslandstarif Reisevorteil.
[Wenigstens einer, der nicht nur glaubt, sondern weiß.]
Archiv für den Tag 23. April 2013
Namen, Buchstaben, Schall, Rauch
„O eine Muse wie das Feuer eines Goldschmieds und wie die Seife der Wäscher! – – Sie wird es wagen, den natürlichen Gebrauch der Sinne von dem unnatürlichen Gebrauch der Abstraktionen zu läutern, wodurch unsere Begriffe von den Dingen eben so sehr verstümmelt werden, als der Name des Schöpfers unterdrückt und gelästert wird.“ Aesthetica in nuce
In den Texten über diese Stadt ist immer wieder von einen großen Leere die Rede. Leere, die sichtbar ist, Leere, die man hier zu empfinden meint. Tatsächlich beginnt diese Leere bereits beim Namen. Auf dem Flugticket steht Kaliningrad, zu Königsberg und Kenig fiel heute außerdem die Bezeichnung Kantograd, ein weiterer Vorschlag lautet einfach „Kant“. Hamannstadt allerdings steht offenbar nicht zur Diskussion. Ich werde es fürs erste mit K. versuchen, ein K., das sich leicht in ein H. verwandeln läßt, und auch als H. nicht nur für H. steht, sondern auch für H. und für H.